Mittwoch, 5. April 2023

Problembären

Die Brenta im Rücken, Caldes von Cavizzana aus (in etwa dort, wo der Weg nach Malga Grum abzeigt) mit Blick auf Samoclevo im Hintergrund. Um 1992. Damals ware die Bären im Trentino fast nur mehr eine blasse Erinnerung.
 
Aus gegebenem Anlass (doch wieder mal was Tagesaktuelles) grabe ich aus meiner alten längst offline gegangenen Gmx-Homepage einen Beitrag aus dem Jahr 2006 aus: 

Editorial Mai/Juni 2006
 
Bären am Paschberg. Man soll es nicht verschreien - doch es bleibt zu hoffen, daß solche Vorfälle eher auszuschließen sind. Die Vorgänge um den Bären JJ1 (Bruno) machen deutlich, wie hoch der Wert unserer gebändigten Natur ist. Innerhalb kurzer Zeit können jahrhundertelange Bestrebungen des Menschen, sich die Natur untertan zu machen, zunichte gemacht werden. 
 
Die Wildnis kann schneller zurückkehren, als man sich denkt - und mit ihr die verderbliche, grausige und unbarmherzige Natur, quasi die Fortsetzung der Marktwirtschaft in einem lebendigen, aber seelenlosen Umfeld.
 
Natur hat keine Seele. Sie geht ihren Weg ganz von alleine. Ohne Zutun des Menschen. Sie wird das auch noch tun, wenn es uns und v.a. unsere Zivilisation längst nicht mehr gibt. Wir haben es uns hier (in Tirol, in Innsbruck, am Paschberg...)gemütlich eingerichtet. Dennoch sind wird nur Gast. Geduldet. Nicht das Natur dulden würde. Sie (die Natur) hat uns gar nicht bemerkt. Selbst wenn wir noch so viele Treibhausgase produzieren und Boden zerstören sollten wird sie uns nicht bemerken. Sie wird auch nicht aufatmen, wenn wir dereinst verschwunden sind.
Die Natur geht einfach ihren Gang. Natur ist nicht das nette Vögelchen am aktuellen Titelbild
(habe ich hier entfernt). Auch nicht der schöne Wald am Paschberg (den ich wohl auch in manchem Text fälschlicherweise umgangssprachlich als Natur bezeichnet habe). Das alles sind nur Symptome der Natur. Symptome sind auch wir, sofern wir uns nur als funktionierende Lebewesen sehen, und alles was wir so tun. Die Natur braucht nicht geschützt zu werden - wohl aber deren Symptome..... Doch wie sieht es mit diesen Symptomen aus? 
 
Der Ökologe kennt den Ausdruck "Anthropogen überformtes Biotop". Das bedeutet so viel, wie eine durch den Menschen veränderte Natur. Der Mensch hat also in den Lauf der Natur eingegriffen. Allerdings nicht als "funktionierendes Lebewesen" ohne Gefühlsregungen sondern mit Wertvorstellungen, Hoffnungen, Ängsten und anderen Schwächen, die in der Natur (angeblich) keine Existenzberechtigung haben. Diese Schwächen mögen das wiedernatürliche im System sein - und zugleich das, was uns von anderen Symptomen (also Merkmalen) der Natur unterscheidet.
 
Gegenwärtig leiden wir unter einer Persönlichkeitsspaltung.
Einerseits treten wir Merkmale der Natur, wie Luft oder Freiraum, die wir zu unserem leiblichen Überleben brauchen, mit Füssen. Andererseits hegen und pflegen wir Merkmale der Natur, denen nur wenige unter uns gewachsen sind. Die Wiederansiedlung von Bären mag dafür ein Beispiel sein. 

Der Bär ist eine Erinnerung aus den Zeiten, in denen der Mensch begann seine Umgebung zu formen. Eine Erinnerung daran, in welchen Merkmalen sich Natur früher einmal offenbarte. Und eine Erinnerung daran, wie überlebensnotwendig es für die Menschheit war, sich durch die Bändigung dieser Merkmale einen Lebensraum zu schaffen. Wir leben in einem anthropogen überformten Biotop. Und nicht nur die unter uns, die die Stadt Innsbruck nicht verlassen. Unser Land ist längst keine "Jungfrau" mehr. Selbst im Karwendel bewegen wird uns eher in einem Garten. 

Und gerade darin liegt das Problem. Es gibt kein Zurück mehr. Wir können nicht sagen "sowohl Wildnis als auch Zivilisation". Wir müssen uns für einen Weg entscheiden. Zivilisation bedeutet nicht Zerstörung, sondern Kultivierung. Es bedeutet etymologisch betrachtet neben Landbau (Urbarmachung) auch Pflege, Geistesausbildung und Verehrung. Wir werden unsere Zivilisation nicht damit adeln, ihrem Lebensraum Bären (die in diesem Lebensraum kein Auskommen mehr finden können) aufzupfropfen. Damit gestehen wir lediglich ein, daß unser Gesellschaft nichts wert ist (was vielleicht augenblicklich stimmt), und daß wir hoffen, daß diese (edeln?) Wildtiere wieder die Oberhand übernehmen werden. 

Der Paschberg ist einer von vielen Erholungsräumen, der nur mehr entferntes Merkmal der Natur ist. Man kann hier wie vielerorts in Tirol die Erinnerung an Natur durch einen Filter erfahren. Nur so ist es möglich zu einem Naturliebhaber zu werden. Das mag schon bei vielen historischen Abhandlungen erörtert worden sein - doch gerät es in Vergessenheit. Die feindliche Natur bleibt in unserem Lebensraum großteils ausgeklammert. Das war ein großes und vor allem zeitlich langes Stück Arbeit. Es ist in Mitteleuropa sowie Teilen Süd und Nordeuropas besonders gut gelungen. 

Es ist eine Errungenschaft unsere Kultur. Wir sind dadurch aber auch verwöhnt worden. Wir nehmen die Gefahr dahinter nicht mehr so ernst. Und wir muten daher dem Werk unsere Vorfahren zuviel zu. Nur dünn ist die Haut, die uns von der Wildnis trennt. Unsere Gesellschaft lotet ihrer Grenzen wieder aus und wird erkennen müssen, daß sie noch immer dort sind, wo sie vor tausenden Jahren waren.
 
Wir sind im Begriff die Wurzeln unserer Zivilisation zu vergessen und wir laufen Gefahr wieder bei Null beginnen zu müssen. Wir wähnen uns gemütlich eingerichtet und haben uns verzettelt in allzu viele Aufgaben die scheinbar unseren Lebensraum bequemer machen sollten. Dort eine Straßenlückenschluss, da eine Umfahrung, daneben Gewerbegebiete, Einfamilienhäuser im Nirgendwo und zuletzt als Ehrenbezeugung an die Natur vereinzelt ausgesetzte Bären.
 
Hinter der dünnen trennenden Haut lauern aber wie ehedem Tod und Verderben. Die dünnen Haut ist dabei nur im übertragenen Sinn zu verstehen, da es um das Wesen der Dinge geht, die wir in die Welt setzen. Diese sind und bleiben Teil der Natur. Wir haben uns die Wildnis wieder in unseren mühevoll geschaffenen Paradiesgarten geholt.
Ob übermäßiger Straßenbau oder Bären ist dabei nebensächlich.
Einige Wahrnehmungen zum Abschluss, die diesen Artikel zum Thema Natur anregten. 

Zum Bären
Lt. Meyers Universallexikon ist der Bär ein (sich zwar überwiegend vegetarisch ernährendes) Raubtier, das oft umfangreichen Wanderungen ausführt. Der Bärenkult ist eine der ältesten Religionen.
Ein Bär braucht ein Revier in mittleren Höhen von ca. 100km². Versuchen sie einen Kreis mit ca. 11 km Durchmesser (allenfalls in Streifen zerschnitten) so in Tirol unterzubringen, daß es keine Berührungspunkte mit größeren Siedlungen gibt. Anzunehmen ist, daß der Bär grundsätzlich einen ähnlichen Siedlungsraum bevorzugt, wie es der Dauersiedlungsraum des Menschen ist.
 
Zum Naturschutz
Warum gibt es so viel Tierliebe, soviel Baumaktivisten, aber nur wenige die sich mit den Merkmalen der Natur als Gesamtheit befassen. Oder sind letztere nur zu still (wäre immerhin möglich)? Naturschutz ist auch Menschenschutz. Kultur ist Pflege. Ist Naturschutz und Kulturschutz eines? 

Zum Verkehr
Allgemein wird festgestellt, daß restriktive Maßnahmen im Straßenverkehr nur dazu führen, daß der Verkehr in andere Bereiche eindringt, in denen man es bisher ruhig hatte. Die Handhabung des Individualverkehrs wird damit immer mehr zu einer Art Krankheitsbekämpfung, deren Auswirkungen auf den Lebensraum mit dem einer Entziehungskur zu vergleichen sind. 

Warum überhaupt das alles - und gerade hier auf dieser Homepage? 

Ich beobachte in Gesprächen mit manchen Freunden und Arbeitskollegen, daß Versuche positiven zivilisatorischen Veränderungen das Wort zu reden (und damit meine ich z.B. ressourcensparende Maßnahmen, Schutz von bestimmten Merkmalen der Natur) als schwarzseherische Tendenzen verstanden werden. Allgemein wird z.B. die Peak-Oil Theorie verneint, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ressourcensparen hat also beispielsweise schon den Anstrich des Herbeiredens von Unheil. Ebenso das Fahren mit der Igler statt mit einem Auto nach Igls. Die Angst muss tief sitzen, wenn solche Aussagen bereits als Bedrohung empfunden werden. So bleibt in mir eine gewisse Verständnislosigkeit zurück, da doch sonst im modernen Management so oft von positiven Herausforderungen gesprochen wird. Das Ende des Öls und der automobilen Gesellschaft ist doch eine Chance ersten Ranges, Neues zu schaffen!


Das alles kann ich auch heute noch unterschreiben, also kümmert mich mein Geschwätz von Gestern. Der Sprung vom Bären zu Straßenbau und Schlusswort mag zu erst etwas seltsam anmuten, aber da in der Diskussion der jüngste Bärenzwischenfall der Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall umzukommen gegenübergestellt wird, passt es auch hier. Und ja. Ich halte von Großraubtieren und Autos im oder nahe des Dauersiedlungsraums noch immer nicht allzuviel.
 
Zum Nationalpark Brenta/Adamello: Dieser hat eine Fläche von 62000 Hektar. Ein Bär braucht, wie weiter oben erwähnt, ca. 10000 Hektar Revier und günstigsten Umständen 1/4 davon.
Bestenfalls haben in diesem Naturpark 24 Bären Platz. Man kann daraus schließen, dass das Projekt Life Ursus schon in der Grundkonzeption darauf abzielte, den Natur- und Nationalparkverbund des Umfelds flächig mitzunutzen. Dieser Verbund reicht von der Schweiz über Südtirol bis ins Nons und Sarcatal und hat lt. Wikpedia eine Fläche von 2647km², was somit für bestenfalls ca. 100 Bären reicht. 
 
In diesem Fall, dafür muss man sich die Karte der Gebiete nur ansehen, gibt es dann Zivilisationskorridore, die von Wildtieren gequert werden müssen. Diese lassen sich nämlich nicht so einfach durch Wegsperren etc. abspeisen, wie menschliche Fußgänger und werden sich wohl eher an die Regel "recta sequi" halten.
 
Die Korridore mit "Nutzungskonflikten" sind demzufolge:
  • Val di Sole am Mostizzolo nach Westen
  • Hinteres Ultental ab Stausee
  • Oberes Sarcatal am Tione
  • Ogliotal am Incudine (nördlich von Edolo)
  • Raum um Bormio
  • Östliche Seitentäler des Engadin zwischen zernez und Scuol
  • Äußeres münstertal beim Mals über Sesvenna bis Scuol

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen