Samstag, 28. Juni 2025

125 Jahre Iglerbahn


 
Heute empfinden wir nach, was sich vielleicht so vor 125+x Jahren zutrug. Oder auch nicht?
 
Der von Nadeln übersäte Waldboden dämpfte das Geräusch seiner Schritte. Er hielt inne und blickte in die Wand der an ihn heran stehenden Bäume. Endlos ihre Zahl verloren sie sich im grünen Dämmerlicht. Er hatte nun schon einen ganzen Vormittag damit verbracht herumzustreifen, Achsen anzuvisieren und die charakteristischen Details der Geländeausformung in sich aufzunehmen. 
 
Hier stand er nun – an einer abgelegenen Stelle des Waldes – und war sich eigentlich nicht im Klaren über Zweck und Ziel seines Projekts. Sein Projekt? Es war wohl mehr ein übernommener Auftrag. Tourismusbetriebe eines kleinen Luftkurorts wünschten eine bequeme Verbindung mit dem städtischen Zentrum. Das ganze sollte möglichst schnell, ohne Komplikationen und natürlich um wenig Geld geschehen. Doch was war der eigentliche Zweck, der Sinn? Der Ingenieur hat nun schon in vielen Landschaften der Monarchie gebaut – nützliches und weniger nützliches. Nun nahe der Mitte des Lebens – und hier mitten im Wald – drängte sich ihm diese Frage wieder auf. Doch die Antwort schien auch hier nicht zu finden sein – wenn man von dem unbeeindruckten Rauschen der Baumwipfel im wieder auffrischenden Föhn absah. Was sollte er mit seiner Arbeit bezwecken? Er, der Ingenieur – und damit von Berufs wegen Diener des Zwecks. Irgendwo in den Tiefen des Waldes fiel ein größerer Ast zu Boden. 
 
Dessen dumpfer Aufprall setzte einen vorläufigen Punkt in seinem Suchen. Der Wald war hier ebener als an anderen Stellen, die er im Zuge der Abwägung der Trassenvarianten besucht hatte. Er erinnerte sich an einen Sommerfrischaufenthalt in früher Jugend. Ein endloser flach gewellter Wald. Im Herzen Deutschlands. Ein Idealbild –eingebrannt in die jugendliche Seele; später zu feierlichen Momenten hervorgekramt, um das Aufwallen eines Gefühls von Erhabenheit zu unterstützen. Andächtig setzte er nun seine Schritte und durchmaß das Gelände – eine wohl sieben Hektar große längliche Ebene in Ost-Westrichtung. 
 
Dieser Platz schien im ein Ausweg zu sein sowohl in technischer als auch seelischer Hinsicht, ein Tor zu längst vergangener Zeit in der diese oder jene Weichen noch anders gestellt hätten werden können. Nun waren die Zungen eingerastet und die Bahn fixiert. Und rückblickend musste er sich eingestehen, dass er keine der Weichen anders gestellt hätte. So war seine Ankunft hier im Wald an einem spätsommerlichen föhnigen Nachmittag nicht Zufall, sondern Ergebnis einer Kette von bewussten, abgewogenen Entscheidungen. Er hatte keine Kinder, denen er seine Wertvorstellungen weitergeben konnte. Er stand am Ende eines Stammes von Entscheidungen, die noch lange vor seiner Geburt getroffen waren. Er konnte nicht darauf hoffen, als Teil eines solchen Stammes zu dienen, dessen Wipfel weiter in die Zukunft reichte und diese mitbestimmte. Er musste seinen Zweck hier und jetzt erfüllen und konnte nichts auf die lange Bank des Generationenwechsels schieben. Die greifbaren Resultate seiner geistigen Kinder würden immer tote Materie bleiben, Bauwerke aus Erde, Stein und Stahl oder allenfalls ein paar Blaupausen. Diese Erkenntnis lastet auf ihm. Und sie zwang ihn die Frage nach Sinn für sich zu lösen und nicht als Hypothek an seine Kinder weiterzugeben. Denn seine Kinder würden die Frage nicht beantworten können. 
 
Sein nunmehriges geistiges Kind hatte mittlerweile Wachstumsprobleme bekommen. Andere involvierte Gemeinden wollten das Projekt nicht unterstützen, weil niemand einem anderen einen möglichen Vorteil gönnt. Trassenvarianten die im Auge des Ingenieurs einen Sinn gehabt hätten, waren längst verworfen. Was blieb war dieser Wald –und innerhalb seiner Grenzen musste das Problem hinreichend gelöst werden. Eine Bahn beginnend in der Stadt, sich Gedärmen gleich einem waldigen Hang durchwindend, diesen am Zielort wieder verlassend, dabei auf dem Weg liegende mögliche Anknüpfungspunkte bewusst bei Seite lassend. Ihm schauderte der Gedanke hier ein Jenseits im Diesseits zu schaffen. Thema verfehlt – so dachte er sich rückblickend auf die im Rahmen seiner akademischen Ausbildung vermittelten Wertvorstellungen. 
 
Und trotzdem: Dies war, auf den Punkt gebracht, die Konsequenz aus den Vorstellungen seiner Auftraggeber. Der Wald, durch den er nun schon in den späten Nachmittag hineinwanderte, erschien im immer mehr einer Insel gleich. Umgeben von einer unüberwindlichen Steilküste, bedeckt von ausgedehnten Wäldern, bildete ihre Landschaft die Spielwiese, auf der er sich nun als Ingenieur entfalten konnte. Zweckfreie Ingenieurbaukunst – er wollte in den Boden versinken – vor Scham angesichts seines Verrats an den eigentlichen Ingenieurtugenden. Doch war es nicht Aufgabe des Ingenieurs, Lösungen für die Probleme zu suchen unbeschadet des Hinterfragens ihres Sinns? War es nicht zuerst seine Aufgabe, Lösungen zu finden – und nicht die Frage nach dem letzten Sinn dieser Lösung zu stellen? 
 
Es dämmerte, erahnbar war die Eintrübung durch eine zunehmende Wolkendecke; die Schatten des Waldes traten aus seinen Zwischenräumen heraus und umspielten bereits die Stämme der Bäume. Längst verlor sich der Wald nicht mehr im Dunkel seiner Tiefe – das Dunkel war nun allgegenwärtig. Er stand nun in diesem Dunkel und war ihm nicht, wie eine Stunde zuvor, gegenübergestellt. Unbemerkt hatte sich auch der Föhn während seines Gedankenflusses verabschiedet. Die Stille kroch nun heran – und sie hämmerte förmlich in seine Ohren. Die Luft war lau. Doch die kommende Änderung war schon in deren Geruch zu spüren. Regen lag in der Luft. Allein, vergessen, sich selbst vergessend im Dämmerlicht fügte er sich nun in seine Situation. 
 
Er würde auch aus diesem Projekt etwas Gutes machen. Mit einem Bleistift zeichnete er den Umriss der ebenen Fläche, auf der er nun den ganzen Nachmittag, sich selbst reflektierend, verbracht hatte, auf den Lageplan des Landvermessers. Er schrieb mit seine Füllhalter in großen Lettern „Teutoburger Wald“ hinein. Als Erinnerung daran, dass er hier mit den Augen des Kindes in ihm an die weitere Planung herangehen wird müssen. Als Erinnerung an jenen schönen Sommeraufenthalt, in dem er ein kleines Stück der Wälder Deutschlands durchstreifte. Dieser kleine ebene Fleck in einem sonst steil, düster und schattig zur Stadt abfallenden Waldhang wird an die unendlich weitläufigen Wälder im Norden, jenseits der Berge, erinnern. Und er wird es schaffen, mit einem Ingenieurbauwerk dem künftigen Passagier im fahrenden Zug diese Erinnerung zu vermitteln. Ein Wassertropfen fiel mitten auf den Plan und der „Teutoburger Wald“ schwoll durch die verrinnende Tinte dunkel an. Wie ein teutonischer Riese hockte nun der Schriftzug inmitten des sonst mit zarten Beilstiftstrichen skizzierten Plans. 
 
Hastig rollte der Ingenieur den Plan ein und steckte ihn in die Innentasche seines Mantels. Er folgte dem schmalen Pfad, der sich, die Ebene nach Nordosten verlassend durch den Wald wand. Bald war sein Weg vom leichten Prasseln des beginnenden Regens auf den Waldboden begleitet. Wurde der Wald licht, stieg auch das Begleitgeräusch. In den dunklen Passagen dazwischen umschloss in dagegen ein dumpfes aber trockenes Gefühl. Der Wechsel dieser Eindrücke erinnerte ihn stark an die Fahrt mit der Brennerbahn, der Wechsel der Geräuschkulisse und der Helligkeit. Ein oder zwei Jahre noch – und auch in diesem Wald würde ähnliches geschehen – auch wenn es eigentlich schon jetzt zu vernehmen war – so wie die Vorahnung des Regens beim Zusammenbruch des Föhns. Ein knappe Viertelstunde später drangen Geräusche aus menschlichen Behausungen ins Dickicht herein. 
 
Er ging vorbei an den ersten Bauernhäusern, die sich eng an den Schattenhang des Waldes schmiegten. In den Hofräumen waren Bauern und Knechte in ihre Arbeiten vertieft. Kaum einer hier mochte wohl von dem Projekt wissen. Alles hier schien ihm etwas entrückt – noch der alten Zeit zugehörig. Auch der Zeit eines J.W. Goethe, dem „das herannahende Maschinenzeitalter“ Unbehagen bereitete. Der Ingenieur bemerkte bei sich das er schon zur Gänze diesem neuen Zeitalter gehörte – und, dass die Lebensart dieser Menschen, mochte die Bahn im Wald nun gebaut werden oder nicht, ein Ende haben wird. Er glaubte einen Druck in seinem Herz zu verspüren. Gleichzeitig spürte er jedoch das Lächeln, das über seinen Mund huschte. 
 
Mittlerweile hatte sich der Regen in ein konstantes Rauschen gewandelt und er eilte in das nahe Wirtshaus. Es war kurz vor fünf – durch den Wetterumschwung aber erstaunlich dunkel für die Jahreszeit. Ein Stellwagen in die Stadt, werde so um sechs Uhr kommen, erwiderte der Wirt auf die Frage danach. Der Ingenieur setzte sich in die noch leere Gaststube, die von einem ähnlichen Dämmerlicht beherrscht wurde, wie sein „Teutoburger Wald“ eine halbe Stunde von hier. Er entrollte den Plan und begann nun erstmals mit zaghaften Bleistiftstrichen mögliche Trassenvarianten zu skizzieren. Einer Schlange gleich, mit Serpentinen das Plateau ausnützend, würde wohl der Höhenunterschied von der Stadt herauf zu meistern sein. 
 
Ein alter Bauer betrat die Stube. Man begrüßte sich knapp, vielleicht etwas teilnahmslos. „Wartet die Herrschaft auf den Stellwagen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte der Bauer fort. „S´ist gar nit so lang her, dass man hieher nur zu Fuß gekommen ist“. Was folgte war Stille. Nur das Ticken der Uhr teilte diese an sich zeitlose Stille in Abschnitte. Der Ingenieur nahm sie wahr, diese Stille, wie sie hier in allen Winkeln der Gaststube vor dem Feierabend heraus kroch. 
 
Der Bauer beobachtete. „Ja – die neue Zeit kommt morgen! Sehn´s, die Stille wird bald nicht mehr sein – und bald werden auch die Leut zum Denken koa Zeit mehr hab´n“ Der Ingenieur sagte nichts. Obwohl im so war, als hätte er dazu genickt. 
**** 
 
Der Ingenieur ist längst nicht mehr. Er hat aber zu seinen Lebzeiten noch viel geplant und gebaut. Für ihn war dieser Tag im Wald ein wichtiger Punkt in seinem Leben. Was danach kam, war von diesem Geist durchzogen. Technik, will sie bestehen, muss mehr sein als eine Mittel, konkrete Probleme zu lösen. Manches was er gebaut hat, steht noch heute. Manches anderes ist den meisten heute Lebenden vergessen – wie der Ingenieur selbst. Diese Bahn aber, von der man ohne Kenntnis ihrer Geschichte, nicht verstehen kann, warum sie gebaut wurde, blieb. Mittlerweile gehört dieses Werk auch zu den Stellwägen, zu Fuß gehenden Bauern und ähnlichem, was im Lauf der Geschichte großteils verschwand. Das Werk reicht herüber aus einer anderen Zeit. Und es vermittelt verloren gegangene Stille, so seltsam es vielleicht für den alten Bauern vor langer Zeit im Dorfwirtshaus aus damaliger Sicht erscheinen mag. Man sitzt im Triebwagen, der Blick streift die heran stehenden Bäume. Endlos ihre Zahl verlieren sie sich im Dämmerlicht. Die Strecke schlendert den Waldhang entlang. Sie scheint diesen zu streicheln. Obwohl in Fahrt, empfindet man sich eingegossen in diese Landschaft. Fünfzehn Minuten taucht man während der Fahrt zwischen Stadt und Dorf in diesen Wald. Fünfzehn Minuten wird man auf sich selbst zurückgeworfen. Bei einer Bergtour mag das selbstverständlich sein, auch beim Betreten einer Kirche – aber hier in einer Straßenbahn? Sein Meisterstück, sein Vermächtnis an uns ist dieses Werk. Ein Zeichen dafür, was Technik sein könnte und was es für den Menschen vermag. 
 
Der Text entstand ca. Ende  2007. Heute habe ich mir gedacht: "Habe ich nicht etwas passendes zur 125 Jahr Feier - auch wenns nur reine Fiktion ist?"

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen