Dienstag, 2. Januar 2024

Ein Denkmal der Alpinistik

Zwischen 1986 (meinem Maturajahr) und 2001 (dem letzten Jahr in dem die Iglerbahn durchgehend planmäßig in die Stadt fuhr) nutzte ich die Bahn häufig für die Heimfahrt, zuerst von der Uni, später dann vom Büro, um noch einen abendlichen Spaziergang dranzuhängen.
 
 Mit den nun wieder häufigeren Fahrten mit der Iglerbahn, spätnachmittags oder am frühen Abend, tauchen aus dem zu dieser Zeit bereits dunkler werden Geäst des vorbeiziehenden Waldes manche längst vergessene Erinnerungen auf:
In der Kampfzone; in der Nähe des Zirbenwegs
 
Herr und Frau E. saßen häufig in der Buslinie K*, mit der meine Eltern und ich von Ausflügen aus der Stadt retour nach Amras fuhren. 
 
Die E.s waren ziemlich wettergegerbt, sehnig und recht einheitlich gekleidet: Offensichtlich noch alte zwiegenähte Lederbergschuhe, grobe Kniestrümpfe, Kniebundhosen, fein karierte Hemden (blauweiß oder rotweiß), Lodenjanker, Filzhüte. Beider Haartracht erinnerte, trotz erstaunlich dunkler Färbung, etwas an Baumbart. Die beiden saßen nicht selten im vordersten Doppelsitz gegen die Fahrrichtung, sodass sie, einem Denkmal der Alpinistik gleich, von den übrigen Fahrgästen während der Heimfahrt betrachtet werden konnten. 
 
Mochten sie auch wie Zwillinge erscheinen, so wirkte doch Herr E mit bedächtigen aber energischen Bewegungen und einer gewissen Einsilbigkeit eine Spur „berglerischer“ als sein Frau, die doch in ihrer Art etwas Betuliches an den Tag legte. 
 
So war es auch meist Frau E, die mit meinen Eltern sprach, während Herr E. so schien ,als würde sich in seinen Augen noch immer die Ziele der jüngsten Bergfahrt spiegeln. Obwohl sie beide, wie meinen Eltern sagten, schon an den Siebzigern vorbei waren (ich hätte sie als Volksschüler damals natürlich noch um mindesten 10 Jahre älter geschätzt) waren sie noch immer regelmäßig unterwegs. 
 
Ich stellte sie mir dabei immer irgendwo in der Waldeinsamkeit der Kampfzone vor, wo die nachmittäglichen Sonnenstrahlen die Stämme durchbrechen. Tief unten hört man kaum mehr den Wildbach. Evident hingegen ist das Kreischen der Zirbelhäher. Einmütig und langsam den steilen, selten begangenen Waldpfad hinauf schreitend. Vorbei an verwitterten Marterln, die von vergangen Missgeschicken zeugen.
 
 Immer wenn ich die beiden sah, auch bei meinen eher seltenen Heimfahrten mit dem K (wer will schon freiwillig mit so einer Buslinie fahren) später im Gymnasium, umwehte sie der Hauch des Hochwaldaromas und die Erinnerung an einsame Pfade, auf denen man eher einer Gämse als einen Menschen begegnete.
 
 Irgendwann in den späten Achtzigerjahren, möglicherweise schon nach meiner Matura, war ich mit meinen Eltern in Igls zum Mittagessen unterwegs (Ägidihof, Sporthotel oder Milchtrinkstube). Am Nachmittag ging es dann noch zum obligatorischen Schöller-Eis in die Bahnhofsrestauration Igls. Der dortige Gastgarten am Bahnsteig war restlos besetzt. 
 
In der Menge saßen im gewohnten Ornat auch Herr und Frau E., unverändert durch die Zeiten, nun wirklich schon über Achtzig. Ich bemerkte, dass die beiden nun auch kürzer treten würden und nur mehr den Pensionistenberg erstiegen. 
Meine Mutter erwiderte darauf, dass die beiden nie irgendwo anders unterwegs gewesen wären. Auf meine Frage: „Auch früher schon?“ meinte sie nur: „Ja“. 
 
Trotz dieser „Aufklärung“ glaube ich noch immer, dass sie einst, vielleicht lange. vor ich sie als Kind kennenlernte, dort unterwegs waren, wo ich sie eigentlich vermutete: Wandernd in der Waldeinsamkeit der Kampfzone durch die nachmittäglichen Sonnenstrahlen, die die Stämme durchbrechen… 
 
*) Damals war der K die Linie, die umwegigst von St. Nikolaus / Trogerstraße nach Amras / Schloßcafe, dabei jeden Stau mitnehmend und manchmal beim fahrplanmäßigen Stundentakt mit bis zu drei Stunden Ausfällen fuhr. Aus mir unerfindlichen Gründen wollten meine Eltern immer (sei es mit Igler oder Postbus unterwegs) zuerst in die Stadt, obwohl man direkt bei Schloss Ambras hätte aussteigen können. 

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