"Am tiefsten Grunde dieser Vorratskammern
der Vergangenheit aber schimmerte da oder dort ein Punkt,
ein Haus etwa, ein vergessenes Zimmer oder eine Landschaft, wo
man wohl einst gewesen sein mußte und wohin man sich zugleich
doch immerfort bewegte:" (aus Heimito von Doderer, DAS LETZTE ABENTEUER -
Ein "Ritter-Roman" z.B. in der Sammlung "Unter schwarzen Sternen, Erzählungen, Biederstein 1966, ISBN-10: 3764200553)
Der Ort, an den ich mich erinnere, ist für jene die ihn kennen, ziemlich genau bestimmbar.
Ein verwilderter Obstgarten in Amras. Die Obstbäume darin: Alte Hochstammsorten mit Äpfeln und Birnen deren Reifungsgrad ohne Abstufung zwischen sauer und faul changierte. Dazwischen hohes Gras, Brennnesseln bis zum Kinn, ein Brunnen, aus dem das Wasser Tag und Nacht rann, im Abfluss fingerdicke Regenwürmer, ein desolates Bauernhaus mit undichtem Dach und ein paar nicht minder baufällige Schuppen, in denen z.B. Farben aus den fünziger Jahren mit passenden Farbrollen gelagert wurden, ein Altholzstoß der aus den Teilen eines alten Leiterwagens bestand und in dem sich stets junge Kätzchen verkrochen. Beerensträucher, durchsetzt mit Holler und Brennnessel, von wildem Wein überwucherter Flieder, im Frühjahr Unmengen Schneeglöckchen, im Frühsommer dann und wann eine junge Katze, deren Kehle von einem Kater durchgebissen worden war, im Hochsommer Weinbergschnecken unter jedem Blatt, im Herbst Unmengen Wespen, die dem Duft des gärenden und faulenden Obstes folgten.
Damals, um 1975, muss es eine Kinderparty gewesen sein, die sich aufgrund milder frühsommerlicher oder spätfrühjahrlicher Temperaturen bis in den warmen Abend zog. Zuletzt saß ich mit drei Schulkollegen im niedrigsten der Apfelbäume, ein breit ausladendes Exemplar mit Ästen, die so dick wie Stämme waren. Eher ein Fremdkörper zwischen den alten Hochstämmen; trotzdem aus kindlicher Perspektive mächtig und v.a. bequem zum Sitzen.
Ein Abend, der aus unserer Sicht kein Ende nehmen hätte sollen.
Ein Stück Ewigkeit.
Irgendwann so um 22h dürfte dann der Beschluss der übrig gebliebenen Elternschaft gefallen sein, dass der Ewigkeit doch ein Ende zu setzen wäre. Ich erinnere mich noch, wie sie unten im Halbdunkel, tlw. von ferner Straßenbeleuchtung angestrahlt, standen: Meine Oma (die sie zuerst vorgeschickt hatten) und die Eltern. Die Verhandlungen, uns vom Baum zu bringen verliefen mühsam und zuerst schon recht amüsiert. Irgendwann hat dann mein Vater, wohl aufgrund reißenden Geduldfadens, ein Machtwort gesprochen. Nun ging es ganz schnell. Kleinlaut krabbelten wir den Baum runter, wobei es sich herausstellte, dass der Abstieg gar nicht mehr so einfach war...zumindest taten wir so.
Am kurzen Weg nach Haus gellte ein Pfiff durch die Nacht. Wir blickten dorthin, wo wir die Quelle vermuteten...und im dunklen Wald oberhalb von Amras sah man den Wiederschein eines Gefährts zwischen den Stämmen der Bäume aufblitzen, das langsam und sonst lautlos bergan fuhr.
Ich fragte (um Nichtschlafenszeit zu gewinnen*): "Die Igler? Jetzt noch?" Darauf setzte mein Vater zur erfahrungsgemäß (mein Mutter rollte nur die Augen) ausholenderen Erklärung an: Dies sei der Kurs, der die Theaterbesucher nach Igls heimbringt. Er ergänzte das dann noch um einen geschichtlichen Rückblick bis in dei Dreißigerjahre, den ich aber längst vergessen habe.
Der Obstgarten - längst verschwunden. Die Bäume - zu Brennholz verarbeitet. Die Farben - vertrocknet. Die Schuppen - einplaniert. Nichts zeugt mehr von diesem Platz.
Der spätabendlichen Pfiff jedoch, den ich damals zum einzigen Mal gehört habe (mit länger Aufbleiben wars dann ohnehin einige Zeit vorbei und die Autobahn wurde jährlich lauter) schallt wieder durch den Wald.
*) Mein Interesse an der Bahn beschränkte sich damals im Wesentlichen auf deren besonderen Eigenschaft, dass man sich darin fortbewegen konnte, ohne zu erbrechen.